Huelva: Operation Mincemeat und der tote Held

von Ralph Trost

Spanien im Zweiten Weltkrieg: Mehr als einmal hatten die Deutschen geheime Pläne der Alliierten in die Hände bekommen, die eindeutig deren strategische Ziele offenlegten und bei entsprechender Gegenoffensive den Verlauf des Krieges maßgeblich hätten beeinflussen können. Doch oft zweifelten sie daran, ob dies wirklich strategische Planungen aus London oder Washington waren. Manchmal fielen sie aber auch auf Tricks und Finten der Alliierten herein, die sie auf falsche Fährten brachten. So auch im Frühjahr 1943, nachdem der deutsche Vormarsch im Osten durch die Niederlage bei Stalingrad zusammengebrochen war. Durch einen vermeintlichen Zufall kamen die Achsenmächte Deutschland und Italien in Besitz von geheimen alliierten Plänen, die auf eine bevorstehende Offensive in Griechenland, auf Sardinien und Korsika hinwiesen. Ein Plan, wie für einen Spionagefilm gemacht.

Operation Torch – Die nicht erkannte Invasion in Afrika

Auch die Pläne der Alliierten für eine Offensive in Afrika waren bereits in den Händen der Achsenmächte gewesen. Aber sie hatten ihnen nicht. getraut: Unter den Leichen, die am 26. September 1942 an die Playa de la Barrosa in Chiclana, knapp 30 Kilometer südlich von Cádiz, angeschwemmt worden waren, befanden sich auch Offiziere des alliierten Nachrichtendienstes. Ihr Flugboot Consolidated PBY „Catalina“ war auf dem Weg von Großbritannien nach Gibraltar bei einem Sturm ins Meer gestürzt, alle zehn Passagiere umgekommen. Darunter auch der Verwaltungsoffizier Paymaster Lieutenant James Hadden Turner, der brisante Briefe bei sich trug, die er dem Governor von Gibraltar persönlich übergeben sollte. Darin enthalten waren Hinweise auf die Operation Torch, die gemeinsame Offensive der Amerikaner, Briten und Exil-Franzosen in Nordafrika.

Doch, wie sich später herausstellen sollte, hatten die mit den Spaniern zumindest inoffiziell verbündeten Deutschen kein Interesse daran, die Leiche Turners zu untersuchen, während die in den Händen der Spanier war. Die in seine Kleidung eingenähten brisanten Schriftstücke schilderten eindeutig von den alliierten Plänen für Afrika, waren aber, so stellten die Briten nach der Übergabe des Toten durch die spanischen Behörden fest, unversehrt und wohl auch nicht gelesen worden. Anders war es mit einem anderen der Absturzopfer gewesen, dem Franzosen Louis Daniélou, der unter dem falschen Namen Charles Marcil gereist war. Er gehörte der Special Operations Executive an, einer offiziell dem Minister of Economic Warfare unterstellten Spezialeinheit, die vor allem hinter den feindlichen Linien operierte. Bei Daniélou/Marcil hatten die Spanier ein Notizbuch mit den Namen von Agenten in Nordafrika und möglichen dortigen Operationen gefunden und an die Deutschen weitergegeben. Offenbar gaben die Deutschen einer möglichen alliierten Offensive keine große Bedeutung. Wenige Wochen später dann, am 8. November 1942, kam es an den Küsten Marokkos und Algeriens zur breit angelegten alliierten Invasion.

Perfektion der Täuschung – Ein Toter mit brisanten Informationen

Die Briten hatten über Funk erfahren, dass den Deutschen der Inhalt des Notizbuches vom falschen Marcil bekannt war. Dies führte zu einem dem neuen und waghalsigen Plan, genau auf diese Weise auch Falschinformationen an den Feind zu übermitteln. Der britische Geheimdienst wusste, dass die Deutschen eine bevorstehende alliierte Offensive in Europa vermuteten. Nur wusste Berlin nicht, wo genau diese stattfinden sollte. Eine Landung der Alliierten beispielsweise auf Sizilien schien ihnen strategisch naheliegend. Durch eine Verstärkung der deutschen Truppen auf der Insel könnte dies auch verhindert oder zumindest verzögert werden. Doch war das nur eine von vielen Vermutungen. Und je unsicherer die Deutschen waren, desto mehr wurden sie gezwungen, ihre sowieso schon dezimierten Einheiten auf viele potentielle Invasionsziele zu verteilen. Für die Alliierten bestand also die Dringlichkeit, hier für Verwirrung zu sorgen und den Feind auf viele Fährten zu locken, um so von den eigentlichen Zielen abzulenken.

Am 30. April 1943 fuhr der Fischer José Antonio Rey María wie jeden Morgen mit seinem Boot auf den Atlantik hinaus. Doch statt der erwarteten Sardinen fand er an der Küste vor Huelva gegen 9.30 Uhr eine Leiche im Wasser. Der Tote mit dem aufgeschwemmten Gesicht trug eine britische Uniform und an einer Kette am Arm eine Aktentasche. Rey María zog die Leiche aus dem Wasser und brachte sie an den Strand, wo er sie dem dort patrouillierenden Militär übergab. Ohne es zu ahnen, war der Fischer auf diese Weise zu einer entscheidenden Figur in einem im weit entfernten London ausgeklügelten Spionagestück geworden, das maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf des Krieges nehmen sollte.

Flight Lieutenant Charles Chomondeley vom britischen MI5 hatte, unter anderem nach dem Absturz der „Catalina“, den Plan entwickelt, dem Feind über abgestürzte britische Fallschirmspringer fingierte Informationen zukommen zulassen, um Operationen der Alliierten zu verschleiern. Diese Idee war zunächst verworfen worden, doch eine Gruppe Geheimdienstmitarbeiter griff sie auf und entwickelte sie weiter.

Ewen Montagu
Ewen Montagu / Royal Navy – Public Domain

Mit dabei war Lieutenant Commander Ewen Montagu (1901-1985), gelernter Anwalt und Mitarbeiter der Naval Intelligence Division, dem Nachrichtendienst der Royal Navy. Gemeinsam mit Cholmondeley und anderen im „Twenty Committee“ plante er, durch einen toten britischen Offizier den Deutschen vermeintlich brisante Geheiminformationen der Alliierten zukommen zu lassen. Die Operation bekam den Codenamen Mincemeat, benannt nach einer Pie-Füllung aus Hackfleisch, Gewürzen, Trockenobst und Brandy.

Der deutsche Agent und der britische Obdachlose

Im andalusischen Huelva lebte der dort geborene Deutsche Alfredo Clauss (1897-1962). Seine Familie war um die Jahrhundertwende wegen der Erzminen dorthin gekommen, der Vater wurde dann in Huelva deutscher Honorarkonsul. 1902 schickten die Eltern Alfredo und seinen drei Jahre älteren Bruder Luis in ein Internat nach Deutschland. Erst 1920 kehrten sie nach Huelva zurück. Beide Brüder traten den Falangisten, den spanischen Faschisten, bei und nahmen am Spanischen Bürgerkrieg teil. Manche Autoren behaupten auch, dass sie bei der Legion Condor waren. Alfredo Clauss war dann auch der Grund, warum der Fischer José Antonio Rey María einen Toten im Wasser vor Huelva finden sollte. Denn Clauss gehörte zur deutschen Abwehr. Und die Briten wussten das. Er war der Adressat des Leichenfundes, über ihn sollten die Falschinformationen nach Berlin gelangen.

Major William Martin
Major William Martin / Public Domain

Die wahre Identität des Toten ist bis heute nicht ganz klar. Laut Ewen Montagu handelte es sich um den Obdachlosen Glyndrwr Michael (1909-1943) aus Wales. Er hatte lange in London auf der Straße gelebt und war dort in einem verlassenen Kaufhaus aufgefunden worden. Offenbar hatte er sich mit Rattengift selbst umbringen wollen, kurz darauf starb er in einem Krankenhaus an einer Lungenentzündung. Michael war genau der Tote, nach dem Montagu, Cholmondeley und die anderen beim britischen Militärgeheimdienst gesucht hatten. Sein Alter und der Tod durch eine Lungenentzündung passten in eine Geschichte, die schon längst zuvor konstruiert worden war.
Es war die Geschichte vom Leben und Sterben des William Martin von den Royal Marines. 1907 in Cardiff/Wales geboren, Major bei den Combined Operation Headquarters, einer alle Teilstreitkräfte einbindenden Abteilung des britischen War Office, die Kommandooperationen plante und durchführte. Major Martin war mit dem Flugzeug auf dem Weg von Großbritannien in Richtung Gibraltar. Bei sich trug er unter anderem private Briefe, das Foto seiner Verlobten Pam, Ausweise mit Passfotos, Theaterkarten und Mahnungen seiner Bank zu überzogenen Kontoständen. In einer Tasche hatte er Briefe an Oberbefehlshaber und Kommandeure im Mittelmeerraum, die er als Kurier wohl persönlich hatte überbringen sollen, da der Inhalt zu vertraulich war, um ihn mit der regulären Militärpost zu verschicken. In diesen Briefen stand, dass die Alliierten nicht, wie die Deutschen vermuteten, auf Sizilien landen würden, sondern auf der Halbinsel Peleponnes, Sardinien und Korsika, um von dort nach Nordfrankreich und auf das griechische Festland vorzustoßen. Doch nichts davon war wahr, weder gab es einen Major Martin, noch waren die Papiere echt.

Diplomatischer Alltag

Dass Flugzeuge im Krieg abstürzten, war keine Besonderheit. Da Spanien offiziell neutral war, wurden geborgene Tote und auch Dokumente an die jeweiligen Konsulate gemeldet und übergeben. So auch hier: am 3. April 1943 benachrichtigen die spanischen Behörden die britische Botschaft über den Fund von Martin. Die Leiche wurde in Huelva begraben, die Tasche mit den Dokumenten Mitte Mai dann dem britischen Vizekonsul übergeben. Offiziell waren die sich darin befindlichen Briefe ungeöffnet geblieben.

In Wirklichkeit aber hatten die Deutschen die Unterlagen gesichtet und fotografiert. Neben Clauss war dies auch Major Karl-Erich Kühlenthal (1908-1975), Chef der deutschen Abwehr in Madrid und ebenfalls Bürgerkriegsteilnehmer bei der Legion Condor. Kühlenthal war ein Protegé von Abwehrchef Wilhelm Canaris, der ihm trotz jüdischer Großmutter einen Ariernachweis verschafft hatte. Er und Clauss hielten die Papiere für echt und meldeten dies nach Berlin. Auch die Leiche war durch die Deutschen untersucht worden, der Befund der Lunge wies darauf hin, dass Martin ertrunken war. Von dem vermeintlich sensationellen Fund unterrichtet, war Hitler in Berlin von der Echtheit der Briefe und Informationen überzeugt. Entgegen der Ratschläge von unter anderem Mussolini und Goebbels ordnete er die Verstärkung der deutschen Truppen auf Sardinien und Korsika an, was eine Schwächung der deutschen Militärpräsenz auf Sizilien und in Bereichen der Ostfront zur Folge hatte.

Das falsche Leben des Glyndrwr Michael

Der britische Plan war aufgegangen, die Deutschen hatten sich komplett täuschen lassen. Militärischer Rang, Geheimhaltungsstufe und Aufgabe des Toten stimmten überein. Das Foto auf der Identitätskarte von „William Martin“, einem sehr geläufigen Namen bei der Royal Army, zeigte in Wirklichkeit Ronald Thomas Reed (1916-1995) vom MI5, dessen Ähnlichkeit mit Glyndrwr Michael von Ewen Montagu zufällig erkannt worden war. Die Verlobte „Pam“ war in Wirklichkeit Jean Leslie (1923-2021), Sekretärin beim MI5. das dem Toten mitgegebene Foto zeigte sie bei einem Badeausflug im Jahr zuvor. Die privaten Briefe und die Bankkorrespondenz gaben der Identität des Toten einen realen Rahmen. Wie sich später herausstellte, hatten die Deutschen sogar überprüft, ob gefundene Theaterkarten zu einer wirklich stattgefundenen Aufführung gehörten. Und die sich in der Tasche befindliche Korrespondenz war adressiert an reale Funktionsträger der Royal Army auf Gibraltar und in Afrika. Der britische Konsul hatte, um die Bedeutung der Papiere zu unterstreichen, bei der spanischen Regierung sogar höflich nach deren Zustand und Verbleib gefragt.

"Pam" Jean Leslie
„Pam“ Jean Leslie / UK National Archives – WO 1065921-1 – Public Domain

Auch dass zwischen dem wirklichen Tod von Glyndrwr Michael in London, wenn es sich bei der Leiche um ihn gehandelt hatte, und seiner Bergung vor Huelva drei Monate lagen, war den Deutschen nicht aufgefallen. Denn Montagu hatte den Toten sofort einfrieren lassen, nachdem er ihm übergeben worden war. Die Leiche wurde präpariert, in eine Uniform gesteckt, und von Montagu und Cholmondeley persönlich in einem Trockeneistank zu einem U-Boot-Stützpunkt nach Schottland gebracht. Dort übernahm dann am 19. April 1943 das Unterseeboot HMS Seraph die gefrorene Leiche an Bord. Die Mannschaft des U-Bootes war erfahren in Geheimoperationen im Mittelmeerraum. Sie nahm ihre geheime Fahrt auf und am 30. April tauchte das Boot vor der spanischen Küste auf und die Leiche wurde um vier Uhr morgens etwa eine Seemeile vor der Küste Huelvas ins Wasser geworfen, wo der Fischer José Antonio Rey María sie dann finden sollte.

Nachdem „Martin“ mit militärischen Ehren in Huelva begraben worden war und der Geheimdienst anhand der vorher präparierten Papiere festgestellt hatte, dass sie trotz der gegenteiligen Beteuerungen der Spanier geöffnet worden waren, meldete der Geheimdienst an Winston Churchill, der in die Aktion eingeweiht gewesen war: „Mincemeat Swallowed Whole“. Die Folgen der Täuschungsaktion waren gravierend. Die am 10. Juli 1943 gestartete britische, amerikanische und kanadische Operation Husky traf die Deutschen und Italiener auf Sizilien wenig vorbereitet. Am 22. Juli war Palermo eingenommen worden, bis zum 17. August hatten sich Deutsche und Italiener von der Insel zurückgezogen oder waren in Gefangenschaft. Auch Teile der Ostfront wurden geschwächt, weil Hitler aufgrund der bei „Martin“ gefundenen Informationen Truppen nach Sardinien, Korsika und nach Griechenland hatte beordern lassen.

Buch und Filme

Montagu hat seine Geschichte 1954 in seinem Buch „The Man Who Never Was“ veröffentlicht. Zwei Jahre später kam ein darauf basierender Film unter in die Kinos. 2022 dann ein weiterer unter dem Titel „Die Täuschung“ (Original: Operation Mincemeat, Regie John Madden), Ewen Montagu wird da gespielt vom Oscarpreisträger Colin Firth.
Erst 1996 ist durch den Historiker Roger Morgan der wahre Name des Toten bekannt geworden. Das Grab auf dem Friedhof in Huelva führt bis heute „William Martin“ auf der Grabplatte, doch ist mittlerweile „Glyndrwr Michael“ hinzugefügt worden. Manche Historiker glauben, in dem Grab liegt ein anderer Toter als Michael. Doch ist das am Ende nicht von entscheidender Bedeutung. Ohne je davon erfahren zu haben, wurde der Obdachlose aus Wales zum tragischen Helden einer der spektakulärsten Operationen in der Geschichte des britischen Geheimdienstes, die einen der größten Verbrecher der Menschheit getäuscht hat und maßgeblich den Verlauf des Zweiten Weltkrieges mit beeinflusste. Die Geschichtsbücher führen die Namen von Leuten, die erheblich weniger bewirkt haben, als Glyndrwr Michael.

Literatur

María Clauss: “¿Mi abuelo es espía?” Tras la huella de William Martin o el hombre que nunca existió, in: Neonuba. La Revista del Ateneo de Huelva. No. 1, Diciembre 2020, páginas 56-73

Ben Macintyre: Operation Mincemeat. The True Spy Story That Changed the Course of World War II, London 2016
Ewen Montagu: The Man Who Never Was. The Remarkable Story of Operation Mincemeat. [Ersterscheinung 1953], Stroud 2021